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Haiti: Doppelte Konkurrenz

USA: »Die Europäer sind ungeheuer gereizt«; Die »Lateinamerikanisierung« der US-Metropolen







Haiti: Doppelte Konkurrenz

In Haiti müssen sich Parteien und Interventionsmächte einigen

von Alexander King

Zum Schluss ging es schneller als erwartet: Präsident Jean-Bertrand Aristide verließ unter dem Eindruck der auf Port-au-Prince vorrückenden Rebellen und auf internationalen Druck das Land. Die Rebellen marschierten in Port-au-Prince ein. Gleichzeitig landeten ausländische Truppen, die nun den Regimewechsel absichern und die Rebellen wieder in ihre Schranken verweisen sollen. Auf die UNO wollte zum Schluss niemand mehr warten. Der UN-Sicherheitsrat schob sein Ok hinterher, als die US-amerikanischen, kanadischen und französischen Truppen längst unterwegs waren. Die bürgerliche Opposition in Haiti frohlockte. Sie hatte mit dem Feuer gespielt. Zur Durchsetzung ihrer Ambitionen gegen die Regierung Aristide hatte sie auf eine Eskalationsstrategie gesetzt, die zur Gewalt der letzten Wochen beitrug. Jetzt ist Aristide weg, bevor die Gewalt die Hauptstadt und damit auch die wohlsituierten Wohnviertel des Bürgertums erreichte.

Aristide hat die Hoffnungen seiner Anhänger auf ein besseres Leben in einer gerechteren Gesellschaft nicht erfüllt. Den allermeisten Haitianern geht es heute wirtschaftlich schlechter als je zuvor. Die Strukturanpassungsmaßnahmen, die unter Aristide und seiner Partei Lavalas durchgeführt wurden, haben lediglich zu mehr Wohlstand in der Entourage des Präsidenten geführt. Auch der Ausgangspunkt der aktuellen Krise, die manipulierte Auszählung der Parlamentswahlen im Mai 2000, ist Teil der Regierungsbilanz von Lavalas. Außerdem beruhte die Macht Aristides zum Teil auf gewaltbereiten paramilitärischen Gruppen, die ein Klima der Angst unter der Opposition schürten.

Allerdings: Mit Aristide wurde ein demokratisch gewählter Präsident gewaltsam abgesetzt. Ein schlimmer Präzendensfall, wie die Gemeinschaft Karibischer Staaten (CARICOM) warnte. Den meisten Menschen in Haiti wird es einerlei sein. Ihre Geschichte ist reich an gewaltsamen Umstürzen. Ihre ökonomische und soziale Lage hat sich dadurch nie verbessert - und wird es auch dieses Mal nicht.

Ausländische Interventionen haben ebenfalls eine lange Geschichte in Haiti. Nach der Unabhängigkeit nutzte vor allem das ehemalige "Mutterland" Frankreich immer wieder seinen Einfluss, um wirtschaftspolitische Interessen durchzusetzen. 1915 marschierten erstmals US-Truppen in Haiti ein - schon damals unter dem Vorwand, das krisengeschüttelte Land befrieden zu wollen. Als die US-Truppen 1934 das Land wieder verließen, hatte Haiti eine neue Verfassung, nach der Ausländern erstmals der Erwerb von haitianischem Grund und Boden erlaubt war, und US-Konsortien hatten Konzessionen über riesige Ländereien erhalten. Hunderttausende von Kleinbauern waren dabei von ihren Feldern vertrieben worden.

Auch die US-Intervention von 1994, die den durch einen Militärputsch ins Exil getriebenen Präsidenten Aristide zurück nach Haiti und in den Palais National brachte, war nicht ohne Kalkül. US-Veteran Stan Goff beschreibt das Ziel der damaligen US-Politik in seinen Memoiren so: »Unsere Aufgabe war es, eine Revolution aufzuhalten, nicht einen Staatsstreich.« Gleich nach Aristides Rückkehr wurden Strukturanpassungsmaßnahmen verabredet, die u.a. die Halbierung der öffentlichen Lohnsumme, die Liberalisierung des Strom- und Telekommunikationsmarktes und die Privatisierung der großen Staatsbetriebe zum Inhalt hatten. Der Streit um die Implementierung dieser Maßnahmen steht am Beginn einer Krise, bei der die Flucht Aristides nur ein vorläufiger Höhepunkt ist.

Haiti ist auch heute noch von strategischem und ökonomischem Interesse für die USA. Wichtig ist für die US-Regierung zudem, Kontrolle über mögliche Migrationsströme zu behalten. Dass Bush beim Ausbruch der aktuellen Gewalt in Haiti seiner Bevölkerung versprach, kein Haitianer werde US-Boden betreten, und dass er die Küstenwache bis an die haitianischen Küsten schickte, damit sie Flüchtlinge sofort nach Haiti zurückbringen sollte, spricht Bände über das »humanitäre« Anliegen seiner Intervention.

US-Konzerne sind in Haiti stark engagiert. Beispielsweise fertigen Arbeiterinnen in Montagehallen bei Port-au-Prince zu Hungerlöhnen Spielzeug für US-Firmen. 1999 wurden sie mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 12.800 Gourdes (etwa 580 US-Dollar) deutlich schlechter bezahlt als andere Industriearbeiter (das durchschnittliche Jahreseinkommen lag bei 20.000 Gourdes). Derzeit wird an der haitianisch-dominikanischen Grenze eine Freihandelszone mit einem Industriepark eingerichtet. Dafür wurden bereits erste Felder planiert, die Bauern vertrieben - entschädigungslos, wenn sie keinen formellen Besitztitel anmelden konnten. Dominikanische Textilunternehmen sollen dort Waren für den US-amerikanischen Markt herstellen lassen - unter Umgehung der US-amerikanischen Länderimportquoten und unter Ausnutzung des niedrigen haitianischen Lohnniveaus.

Trotz dieses vornehmlich US-amerikanischen Engagements war es der französische Außenminister de Villepin, der als erster von Regimewechsel und internationaler Eingreiftruppe in Haiti sprach. Kein Zufall: Die haitianische Opposition hatte jahrelang intensive Lobbyarbeit betrieben und dabei ihre guten Verbindungen zur europäischen Sozialdemokratie genutzt. Auch zum französischen Präsidenten Chirac gab es einen engen Kontakt - über den Schriftsteller Régis Debray, der eine Karriere vom Weggefährten Fidel Castros bis zum außenpolitischen Berater Mitterands und jetzt Chiracs hinter sich hat und in dieser Funktion auch die Interessen seiner alten Genossen in Haiti vertritt.

Die US-Regierung fühlte sich in dem Moment zum schnellen Handeln aufgefordert, als sich Frankreich anschickte, als Ordnungsmacht im US-amerikanischen Hinterhof aufzutreten. Jetzt scheint sie Herr der Situation zu sein. Die Nachrichtenagentur Agence France Presse titelte »Les américains mènent la danse en Haïti«. Die karibischen Nachbarn wenden sich enttäuscht ab. Ihr Friedensplan für Haiti wurde durch das Vorpreschen der USA Makulatur. Die USA suchen sich nun ihre haitianischen Partner selbst aus. Wer aber ohne oder gegen Lavalas regieren will, riskiert, dass diese Bewegung, die vor 15 Jahren erstmals in der haitianischen Geschichte den Bauern und städtischen Armen eine Stimme gab, endgültig einem Prozess der Warlordisierung anheim fällt.

erschienen in: iz3w 267, Freiburg 2002




USA: »Die Europäer sind ungeheuer gereizt«

Interview mit Andrei S. Markovits über den transatlantischen »Culture Clash«

von Jörg Später und Christian Stock

iz3w: Was bereitet Ihnen mehr Unbehagen: Die Außenpolitik der Bush-Administration oder der weltweite Protest dagegen?

Markovits: Ich hatte große Probleme mit dem Irakkrieg, aber auch mit der Meinung der Weltöffentlichkeit. Ich befürchte, dass ihre USA-Feindschaft eine bleibende Sache ist. Sie hat ja auch eine lange Vorgeschichte, die mit diesem Krieg nichts zu tun hat, und war insofern vorhersehbar. Ich verstehe sehr wohl, warum die europäischen Pazifisten zu Hunderttausenden gegen den Irakkrieg auf die Straße gingen. Aber warum nicht gegen den Tschetschenienkrieg? Warum nicht wegen der tausende Muslime, die in Indien von fanatischen Hindus ermordet wurden? Sie sind eben nur selektiv pazifistisch, nur wenn es um Kriege der Amerikaner geht. Niemand findet die Verbrechen anderer Staaten empörend, mit der wichtigen Ausnahme Israels natürlich. Besonders in Deutschland hat man mich früher für verrückt erklärt, wenn ich sagte, die Pazifisten in den EU-Ländern werden sich als europäische Militaristen entpuppen. In einem Leitartikel der sich immer noch alternativ gebenden taz vom 8.4.2003 wurde nun prompt eine europäische, militärische Gegenmacht zu den USA gefordert. Es ist Ziel der deutschen Politik, Tony Blair an die Achse Paris-Berlin-Moskau zu binden, um somit Großbritannien am Aufbau einer europäischen Gegenmacht zu den USA gerade im militärischen Bereich zu beteiligen.

iz3w: Beim Widerstand gegen den Irakkrieg ging es also nicht so sehr um den Irak, sondern um eigene Interessen?

Markovits: Absolut. Besonders bei den Franzosen. Das hat mich so aufgeregt an der europäischen Reaktion. Europa ging es doch nicht ernsthaft um Multilateralismus oder um moralische Prinzipien. Es gab schon lange einen Keil zwischen den USA und Europa. Ich verzeihe der Bush-Administration nicht, dass sie ihn auf die Spitze getrieben und damit die USA geschwächt hat. Aber der Widerstand gegen den Irakkrieg war ganz klar auch eine Machtdemonstration der beiden Großen in Europa, Frankreich und Deutschland. Chirac ist ein Napoleonist, er sagt ganz offen, dass Frankreich ein »world player« sein will. Natürlich nicht alleine, das kann die Mittelmacht Frankreich niemals werden, sondern eben verbrämt im Rahmen einer französisierten EU. Die Deutschen sind mir etwas sympathischer, weil sie europäischer denken. Aber objektiv haben sich diese zwei Staaten und Russland gefunden und es ist eine Frage der Zeit, bis ihre Konzepte umgesetzt werden. Es gibt strukturelle Differenzen zwischen Europa und den USA und beiderseitige Überheblichkeit.

iz3w: Worin liegt dieser strukturelle Gegensatz?

Markovits: Es gibt einen schon lange währenden »culture clash« zwischen Europa und den USA. So wie Aristokraten auf Bürgerliche und beide auf die ärmeren Schichten heruntergeblickt haben, so haben Europäer die Amerikaner kulturell niemals ernst genommen. Sie haben ihnen irritiert nachgesagt, neureich zu sein usw. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam dann allerdings ein noch schlimmerer Feind als die kulturlosen Amerikaner: Der Kommunismus. Deshalb haben viele Europäer ihre latenten Ressentiments gegen die USA heruntergeschluckt. Die Soldaten der Wehrmacht sind bei Kriegsende, wenn sie die Wahl hatten, immer westwärts in die Hände der Amerikaner gegangen, weil diese gegenüber den Sowjets das kleinere Übel darstellten. Diese Wahrnehmung fällt jedoch nach 1989 weg. Die Abneigung gegen die USA bricht wieder auf, die Differenzen kommen stärker und stärker zu Tage.
Bemerkenswerterweise haben aber gerade die USA erst die Einigkeit des multinationalen Europa bewirkt. Die NATO sorgte dafür, dass Polen und Deutsche heute in den selben Jeeps sitzen oder dass die Franzosen den Deutschen trauen. Das konnte nur passieren, indem jemand wie die USA von außen eine Art Dach errichtete, das den verfeindeten Europäern gemeinsames Agieren und vor allem Vertrauen ermöglichte. Es ist eine der größten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, dass Krieg heute in Europa undenkbar ist.
Zum neuen europäischen Gemeinschaftsgefühl nach 1989 gehört nun ironischerweise aber auch das strukturell vorhandene Ressentiment gegenüber den USA. Der ehemalige französische Finanzminister Strauss-Kahn hat Recht, wenn er die Demonstrationen vom 15. Februar 2003 weniger wegen der Ablehnung des Irakkrieges als vielmehr wegen der Herausbildung eines europäischen Bewusstseins für so bedeutsam hält. Es ist zwar noch immer nicht ganz klar, was es bedeutet, Europäer zu sein, aber es wird immer deutlicher, dass sie auf alle Fälle Nicht-Amerikaner sein wollen. Der europäische Kulturbegriff war und ist nichts anderes als ein Kampfbegriff gegen die USA.

iz3w: Worin besteht denn - marxistisch gedacht - der ökonomische Unterbau dieses kulturellen Gegensatzes zwischen Europa und den USA?

Markovits: Die ökonomischen Rivalitäten können das abgekühlte Verhältnis nicht erklären, und deshalb würde ich von einem Primat der kulturellen und politischen Kluft sprechen. Das Kapital ist viel multinationaler als gemeinhin angenommen wird, auch wenn es Konkurrenzen gibt. Natürlich will Boeing mehr Flugzeuge verkaufen als Airbus, aber bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die Airbus-Triebwerke von US-Firmen geliefert werden. Die ökonomischen Konkurrenzen bestehen weniger zwischen Europa und den USA, sondern vielmehr gegenüber der Dritten Welt. Die Ökonomie ist zwar eine Reibungsfläche, aber der wahre Grund des Auseinanderdriftens ist sie nicht, im Gegenteil: Sie ist das Einzige, was die großen Kontrahenten auf beiden Seiten des Atlantiks noch wirklich eint. Die amerikanische Dominanz war von 1945 bis 1989 eher größer als heute. Die Amerikaner waren ökonomisch stärker in Europa präsent und Europa weniger in den USA. Trotzdem war der Antiamerikanismus in Europa um vieles geringer als heute, wo die Europäer an Macht gewonnen haben.
Blödsinnig ist auch die Parole »Kein Blut für Öl«. Die amerikanischen Firmen wären doch ohne den Irakkrieg viel einfacher an diesen Rohstoff gekommen. Es ging vor allem um Prinzipien und um weltanschauliche Konzepte, die ich teilweise für falsch halte.

iz3w: Was hat »Amerika« als Chiffre an sich, dass sich die USA-Bilder nur zwischen zwei Extremen bewegen: Entweder ist man Apologet Amerikas, oder man dämonisiert es. Liegt das an seiner Hypermacht oder an dem gesellschaftlichen Modell, für das Amerika steht?

Markovits: Eher an letzterem. Das sieht man an den Diskussionen des frühen 19. Jahrhunderts über Amerika, denn damals war es alles andere als eine Hypermacht. Ökonomisch wurden die USA erst Ende des 19. Jahrhunderts zur Großmacht, politisch sogar noch später. Trotzdem gab es schon früh eine andauernde Auseinandersetzung mit den USA. Die USA sind eine europäische Kreation, anders als China oder Japan, die dem europäischen Bewusstsein vollkommen fremd waren und sind. Und anders als die anderen europäischen »Externalitäten« wie Kanada, Australien oder Neuseeland haben die USA 1776 eine soziale, politische und kulturelle Revolution gegen Europa vollbracht. Diese Revolution ist absolut entscheidend für die angespannte Entwicklung der letzten 200 Jahre. Die Europäer haben - vor allem auf der kulturellen Ebene - diese Revolution niemals angenommen. Sie haben den Amerikanern niemals Eigenständigkeit zugebilligt, und wenn, dann nur minderer Qualität. Von Ebenbürtigkeit war keine Rede.

iz3w: Ist Amerika deshalb in Europa so unbeliebt, weil es als missratener und zu mächtig gewordener »Sohn« wahrgenommen wird? Handelt es sich beim Antiamerikanismus also nicht um Vatermord, sondern um Sohnesmord?

Markovits: Ja, das ist richtig. Die Irritation der Europäer geht auf eine ungeheure Reizung durch die USA zurück. Sie fühlen sich angezogen und abgestoßen zugleich, wie von Pornographie. Diese Reizung bezieht sich auf nahezu alles - vom Verhältnis der Amerikaner zu Waffen bis zum Puritanismus, vom Umgang mit den Indianern bis hin zur Größe des Landes und seiner Modernität. Erstaunlich daran ist, dass bezüglich Letzterem die Literatur der europäischen Rechten und sogar der Nazis eine erstaunliche Deckungsgleichheit mit der Literatur der Linken aufweist. Die Modernität wird als faszinierend und als bedrohlich zugleich empfunden. Deswegen kommt es zu diesen polaren Extremen bei den Amerikabildern. Diese haben aber auch mit der schieren Größe des Landes zu tun. Den Großen steht man nicht neutral gegenüber, wie das etwa bei Schweden der Fall ist. Auch Deutschland wurde und wird ja innerhalb Europa schon allein wegen seiner Größe misstrauisch beäugt. Das ist wie im Sport: Entweder man liebt Bayern München, oder man hasst es.

iz3w: Viele Europäer wissen doch die amerikanische Kultur sehr zu schätzen.

Markovits: Bei der Wahrnehmung der USA ist ein Widerspruch auffällig: Die europäische 68er-Linke war geprägt von der amerikanischen Rock-Kultur. Sie hat sich überhaupt nicht auf die sowjetische oder chinesische Kultur bezogen, selbst wenn sie Mao-Bibeln las. Trotzdem behaupten nun dieselben Leute, etwa neulich Wolfgang Herles in der ZDF-Sendung aspekte, die Amerikaner seien Kulturbanausen und läsen statt Günter Grass nur das alte Testament und die Börsenkurse. Sprich, wer nicht deutsche Literatur liest, ist ungebildet. Dass aber die Amerikaner Leihbibliotheken mehr benutzen als jede andere Bevölkerung der Erde, ist eine empirische Größe, die überhaupt keine Überzeugungskraft gegenüber einem tief sitzenden Vorurteil hat. Vorurteile sind eben Urteile, die man bereits »vor« der Empirie getroffen hat. Da helfen noch so viele Gegenbeispiele nicht.
Das Bild des alten Testaments und der Börsenkurse, das Antiamerikanismus in Verbindung mit den üblichen Vorurteilen über Juden bringt, ist übrigens altbekannt. Es wurde von den Nazis nur auf die Spitze getrieben, spielte aber auch im Antisemitismus der Stalinisten eine große Rolle. Es ist eine weit verbreitete Denkschablone, die durch den 11. September noch einmal verstärkt wurde, die kein Stammtischgespräch mehr ist, sondern ein allgemein akzeptierter Diskurs im »alten Europa«.

iz3w: Ein von Hannah Arendt notierter Aphorismus, mit dem sie die Absurdität des Antisemitismus verdeutlichen wollte, lautet: Wenn gesagt wird, die Juden beherrschen die Welt, dann kann man ironisch ergänzen: Und die Radfahrer. Wenn man heute sagt, die Amerikaner beherrschen die Welt, dann hat das immerhin eine halbwegs reale Grundlage. Was hat der Antiamerikanismus mit Amerika zu tun? Ist er wie der Antisemitismus eine reine Projektion?

Markovits: Der Antiamerikanismus hat insofern auch eine reale Grundlage, weil die USA die weitaus stärkste Staatsmacht der Welt sind - was die Juden nie waren. Das ist ein Unterschied ums Ganze, denn beim Antisemitismus handelt es sich um ein vollkommen wahnhaftes, aber umso dauerhafteres Vorurteil. Auffällig ist aber, dass die amerikanische Macht sofort mit den Juden verbunden wird. Niemandem würde einfallen zu behaupten, dass der Irakkrieg von Schwarzen vorangetrieben wurde, obwohl mit Colin Powell und Condoleeza Rice mindestens zwei entscheidende Personen der US-Administration Schwarze sind.
Bei Richard Perle hingegen wird sofort erwähnt, dass er Jude ist. Und fast alle meiner europäischen Freunde haben mir immer die Anzahl der Juden in Clintons Kabinett vorgezählt, wohlmeinend und tolerant, versteht sich, es sind doch brave Linke. Aber sie haben Inventar über Juden geführt. Warum? Führt man in Europa über irgendeine andere Ethnie oder Religion innerhalb amerikanischer Regierungen Inventar? Und hat man für andere Ethnien und Religionen außer den Juden Codewörter wie z.B. »Ostküste«? Mir sind keine bekannt.

iz3w: Gibt es eine klar bestimmbare Trennlinie zwischen sachlicher Kritik an den USA und Ressentiment, und wenn ja, wo verläuft sie?

Markovits: Wenn jemand in politischen Termini die Macht der USA kritisiert, ist das vollkommen in Ordnung. Doch es bleibt sehr selten dabei. Ich führe gerade eine Studie über die Amerikabilder in der europäischen Presse durch, und zwar insbesondere über die dabei verwendeten Adjektive. Auffällig ist, dass die meisten Adjektive nichts mit Politik zu tun haben. Wenn jemand rational argumentiert, die Politik der USA in Sachen a, b oder c ist völlig falsch, habe ich kein Problem damit. Da kann ich antworten: Bei a haben Sie recht, bei b bin ich anderer Meinung usw. Wenn aber geschrieben wird, Bushs Politik im Irak beruhe darauf, dass die Amerikaner »rachesüchtig« oder »kulturlos« sind, dann ist das nur pejorativ. Ein solcher negativer Drall spricht einen gewissen Code an, und jeder, der das liest, weiß Bescheid.

iz3w: Dieser Code scheint mit Bush seine Reizfigur gefunden zu haben.

Markovits: Bush eignet sich ja auch hervorragend zur Zielscheibe. Seine Pressekonferenzen sind einfach nur peinlich. Aber Al Gore hätte nach dem 11.9. eine ähnliche Außenpolitik wie Bush gefahren, nur dass wegen seines angegrünten Images der weltweite Protest dagegen nicht so stark ausgefallen wäre.

iz3w: Was sagen Sie zu Dan Diners Kritik, bei den Strategien mancher neokonservativer »think tanks« in den USA handele es sich um »demokratischen Bolschewismus«, der die ganze Welt missionarisch mit seinen Ordnungsvorstellungen überziehen will?

Markovits: Mit den von Diner kritisierten Vorstellungen bin ich auch nicht einverstanden. Zu diskutieren, woher dieser Missionsgedanke kommt, ist vollkommen legitim und alles andere als antiamerikanisch. Diner spricht eben über eine konkrete politische Strategie, nicht über eine »Kultur«. Eine solche Amerikakritik ist kein Antiamerikanismus.

iz3w: Die Reaktion auf den Vorwurf des Antiamerikanismus lautet meist so: Wir haben doch nichts gegen die US-amerikanische Bevölkerung, nur gegen die US-Regierungspolitik, und in den USA gibt es doch viele Kritiker wie z.B. Noam Chomsky, die unsere Ansichten teilen.

Markovits: Die Beurteilung von Kritik hat nichts mit der Herkunft der Leute zu tun, sondern es kommt darauf an, ob pauschale Urteile über ganze Kollektive gefällt werden. Juden können antisemitisch sein, Schwarze rassistisch, Deutsche antideutsch und Amerikaner antiamerikanisch. Wenn Chomsky Kritik an der US-Politik anbringt, ist das in Ordnung, solange es keine verallgemeinernde Charakterisierung beinhaltet. Denn Letzteres beruht nicht mehr auf Empirie oder auf einer bestimmten politischen Position, und deswegen lässt sich darüber nicht mehr politisch diskutieren. Das ist das Schlimme an der heutigen Debatte in Europa.

iz3w: Es gibt in Europa nicht nur Antiamerikaner, sondern auch ausgesprochene Apologeten Amerikas.

Markovits: Wer unbesehen alles richtig findet, was die USA tun, und nicht mehr analytisch argumentiert, wer also durchweg amerikaphil ist, den kann ich genauso wenig ernst nehmen wie die Amerikaphoben. Das verbietet sich angesichts Bushs katastrophaler Politik, gerade auch im Inneren. Aber Amerikaphilie ist doch minoritär im heutigen Europa. Mit welcher Schadenfreude haben die europäischen Medien die vermeintlichen amerikanischen Ausrutscher am ersten Wochenende des Irakkrieges begrüßt: Haben wir doch immer gewusst, recht geschieht es ihnen. Und dann die verlegenen Stimmen, als die Bewohner von Bagdad die Marines abküssten. Die Enttäuschung der Europäer triefte wahrlich aus allen Ecken und Enden.

Andrei S. Markovits wurde in Rumänien geboren und wuchs hauptsächlich in Wien und New York auf. Heute ist er Professor für Politik und Soziologie an der University of Michigan in Ann Arbor. Markovits gilt als einer der führenden Europa- und Deutschland-Experten der US-amerikanischen Politikwissenschaft. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Entwicklung der deutschen Linken. Auf deutsch sind von ihm u.a. erschienen: Grün schlägt Rot. Die deutsche Linke nach 1945 (Hamburg 1997); Die Fratze der eigenen Vergangenheit. Von der Goldhagen-Debatte bis zum Kosovo-Konflikt (Berlin 1999). Seine aktuelle Forschungstätigkeit konzentriert sich u.a. auf den kulturwissenschaftlichen Vergleich von europäischer und US-amerikanischer Sportkultur. Auf deutsch erschien dazu: Im Abseits. Fußball in der amerikanischen Sportkultur (Hamburg 2002, siehe auch www.andy markovits.com) Immer wieder nimmt Markovits mit Zeitungsbeiträgen, Kommentaren und Vorträgen an politischen Debatten in Deutschland teil. So unterzeichnete er beispielsweise den Offenen Brief des Bündnis gegen Antisemitismus an die deutsche Friedensbewegung (www.bga-berlin.coolfreepages.com/_new/aktuell.html), in dem dieser eine »gefährliche Mischung aus Antiamerikanismus und politischer Naivität« vorgeworfen wurde.

erschienen in: iz3w 269, Freiburg 2003




USA: Magischer Urbanismus - Die »Lateinamerikanisierung« der US-Metropolen

von Mike Davis

Die Migration aus Lateinamerika in die USA hat sich durch die Verschärfung sozialer Gegensätze einerseits und den erleichterten Reise- und Kommunikationsverkehr andererseits in den letzten Jahren grundlegend verändert. Das Leben findet zunehmend in zwei parallelen Welten statt: In den Heimatregionen der MigrantInnen und in den Communities amerikanischer Vorstädte - beide verbunden zu »virtuellen Dörfern«. So finanzieren die Auswanderer in ihren Heimatdörfern Schulen und Krankenhäuser, gleichzeitig gewinnen sie innerhalb der US-amerikanischen Gewerkschaften an Bedeutung.

In sechs der zehn größten US-amerikanischen Städte (New York, Los Angeles, Houston, San Diego, Phoenix und San Antonio) leben inzwischen mehr Latinos als Afro-AmerikanerInnen. In Los Angeles, Houston und San Antonio sind sie sogar noch vor der nicht-hispanischen weißen Bevölkerung die größte Community. Diese folgenreiche "Lateinamerikanisierung" der mittleren und größeren Städte der USA stützt sich auf eine Bevölkerung mit spanischen Nachnamen, die jährlich um eine Million Menschen anwächst und somit das fünffache des allgemeinen Bevölkerungswachstums erreicht.1 Die Hysterie der weißen US-AmerikanerInnen konzentriert sich dabei vor allem auf die angeblich »unbegrenzte« Einwanderung. Doch selbst wenn morgen ein Einwanderungsstopp verhängt werden sollte, würde sich die erheblich jüngere Latino-Bevölkerung (das Durchschnittsalter beträgt 26 Jahre) weiterhin proportional stärker als die schwarze und die nicht-hispanische weiße Bevölkerung (deren Durchschnittsalter 37 Jahre beträgt) entwickeln.
Ähnlich wie die asiatischen EinwandererInnen favorisieren Latinos ganz eindeutig die großstädtischen Zentren als Wohnorte, wodurch die Vorurteile über das Chaos der Metropolen von einer mehrheitlich suburbanen weißen Bevölkerung noch verstärkt werden. Mit Ausnahme der mexikanischen MigrantInnen, die vielerorts von Kalifornien bis Michigan auch das kleinstädtische Leben bestimmen, konzentrieren sich die wichtigsten Latino-Gruppen in den zwanzig größten Städten der USA. Alleine in Los Angeles und New York lebt circa ein Drittel aller spanisch-sprechenden BewohnerInnen. Demzufolge kann sich Los Angeles auf die Fahnen schreiben, die weltweit zweitgrößte mexikanische, guatemaltekische und salvadorianische Community zu beherbergen, während New York City damit angibt, die »wahre« Hauptstadt von Puerto Rico zu sein. Im vorherrschenden binären Diskurs innerhalb der US-amerikanischen Öffentlichkeit ist die historische Bedeutung dieser Transformation der städtischen Landschaft bisher jedoch noch nicht zur Kenntnis genommen worden. Die zunehmend von Asiaten wie auch Latinos bestimmte Dynamik der gegenwärtigen Großstadt wird weiterhin in der altmodischen Schwarz-Weiß-Optik wahrgenommen. So wurden z.B. die Rodney-King-Riots in Los Angeles County 1992 fast überall als Konflikte zwischen Schwarzen, Weißen und KoreanerInnen interpretiert, obwohl die Mehrheit der Verhafteten spanische Nachnamen hatte. Als 1994 75.000 junge Latinos überall in Kalifornien auf die Straße gingen, um gegen die rassistische Proposition 187 zu demonstrieren, wurde der größte SchülerInnenprotest in der Geschichte des Bundesstaates von den nationalen Medien praktisch totgeschwiegen. Ein vergleichbarer politischer Protest von schwarzen oder weißen Jugendlichen dagegen wäre mit Sicherheit sofort zu einer mittleren Sensation aufgebaut worden.


Transnationale Vorstädte

1982 zerstörte ein furchtbarer Brand einen ganzen Wohnblock in der Nähe von Downtown Los Angeles. Es herrschte allgemeine Verwunderung, als die ermittelnde Feuerwehr herausfand, daß die mehreren hundert Bewohner des Blocks alle ehemalige Nachbarn aus einem einzigen Dorf, El Salitre, im mexikanischen Bundesstaat Zacatecas waren. Die Feuertragödie hatte ein zentrales Strukturmerkmal der neu entstehenden Latino-Metropole enthüllt: Die Substanz der neuen spanisch-sprechenden städtischen Nachbarschaften bilden nicht nur Individuen oder Familienhaushalte, sondern immer stärker ganze transnationalisierte Communities. Wichtig ist, zwischen alten und neuen Mustern der Kettenmigration zu unterscheiden. Die Vorhut der männlichen Migranten mußte in ihren Stadtteilen oder auf dem Arbeitsmarkt Nischen schaffen oder finden, um später ihre Landsleute aus ihrem Familienclan oder ihrem Heimatdorf nachzuholen. Diese Nischen und Netzwerke wurden über die Jahre und Jahrzehnte zu einem unschätzbaren »sozialen Kapital« für die zurückgebliebenen Communities, da sie ihnen erlaubten, Arbeitslosigkeit zu exportieren, neue Qualifikationen zu erwerben, ihre finanziellen Ressourcen aufzubessern und sich in gewisser Weise gegen die Brutalität und Unberechenbarkeit der Natur und des Weltmarktes abzusichern.
In der Vergangenheit wurden sie meist von jungen Männern am Leben erhalten, die in die USA gingen, hart arbeiteten und dann oftmals mit einem kleinen Vermögen und als lokale Helden in ihre Heimat zurückkehrten. Eine beträchtliche Minderheit blieb natürlich auch schon damals für immer auf der anderen Seite der Grenze und hat im Laufe der Zeit ihre Familienangehörigen in die Staaten nachgeholt. Aber das vorherrschende Migrationsmuster von MexikanerInnen in den 70er Jahren, das dem der Italiener im 19. Jahrhundert ähnelte, bestand aus der temporären Auswanderung von Arbeitskräften. Schließlich führten die Schuldenkrise in Mexiko und die grausamen Bürgerkriege in El Salvador und Guatemala zu einem gewaltigen Bedeutungszuwachs der sogenannten »Push-Faktoren« im Migrationsprozeß. Unabhängig von den ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen im Aufnahmeland USA (einer der zentralen sogenannten »Pull-Faktoren«) zwang die schiere Notwendigkeit des Überlebens immer mehr Menschen auf den zunehmend schwierigen und gefährlichen Weg Richtung Norden. Eine wachsende Anzahl junger Frauen schloß sich der Wanderungsbewegung an, genauso wie arbeitslos gewordene Facharbeiter, Akademiker und deklassierte Selbstständige. Zur gleichen Zeit brachte die Reform des Einwanderungsgesetzes 1986 sowohl erhebliche Vorteile (eine Amnestie für mehr als 2,5 Millionen vormals »illegale« EinwanderInnen) wie auch wesentliche Nachteile (Sanktionen für Arbeitgeber und eine Militarisierung der Grenze) mit sich, so daß sich immer mehr WanderarbeiterInnen dauerhaft in den USA niederließen. Die etablierten Teile der Latino-Communities begannen, in ihre Wohnungen und Häuser, in die College-Ausbildung ihrer Kinder und in kleine Unternehmen zu investieren. Diese Entwicklung wurde fälschlicherweise als Zeichen für eine abnehmende Identifikation mit traditionellen Kulturen und Heimatländern interpretiert. Vielmehr sah sich ein Großteil der MigrantInnen gezwungen, sich immer mehr auf der nördlichen Seite der Grenze zu verschanzen, nur um ihre umkämpften sozialen Identitäten auf der südlichen Seite der Grenze verteidigen zu können. Mehr als jemals zuvor bilden die in die Heimat überwiesenen Migradollars (nach Schätzungen zwischen acht und neun Milliarden jährlich in den 90er Jahren) die zentrale Lebensgrundlage für viele ländliche Communities in Zentralamerika. Ein Ergebnis der zunehmenden »Inkorporation der MigrantInnenkulturen in das recht anpassungsfähige Gewebe des lokalen sozialen Systems« ist die effektive Transnationalisierung von ganzen Communities und Dörfern.2 Diese neue Logik der sozialen Reproduktion - unter den Bedingungen einer rapiden und manchmal auch katastrophalen globalen Restrukturierung - zwingt die traditionellen Communities dazu, Besitz und Bevölkerungen zwischen zwei unterschiedlichen ortsverbundenen Existenzen auszubalancieren. Ökonomische und kulturelle Nabelschnüre verbinden heute Hunderte lateinamerikanischer und karibischer Lokalitäten dauerhaft mit ihren Gegenstücken, den städtischen Nachbarschaften in den Vereinigten Staaten. In dem Maße, wie die Communities im Auswanderungsland zum integrierten Bestandteil der Ökonomie der MigrantInnen-Metropolen wie auch der ihres eigenen Nationalstaates werden (ein Prozeß, den einige Forscher inzwischen »Nortenización« nennen), werden sie de facto zu »transnationalen Vorstädten und Stadtteilen« von New York, Los Angeles, Chicago und Miami. Es handelt sich hierbei nicht nur um eine reine Metapher. Dieser Vorgang, der vielmehr reale und radikal neue soziale und geographische Verbindungen verlangt, muß gerade von den Communities und Haushalten, die von den globalen Marktgesetzen zuallererst als »überflüssig« erklärt worden sind, Tag für Tag neu geschaffen und aufrechterhalten werden. Ironischerweise werden diese kommunalen Überlebensstrategien am wirkungsvollsten von all jenen Technologien unterstützt, die man in der Regel mit Prozessen der Globalisierung und der Ent-Lokalisierung identifiziert.
Tatsächlich haben sich die (ehemaligen) BewohnerInnen des Dorfes Ticuani im mexikanischen Bundesstaat Puebla, die nun in Brooklyn leben, in einer Art »virtuellem Dorf« neu eingerichtet. Alle wesentlichen kommunalen Angelegenheiten werden in wöchentlichen Konferenzschaltungen zwischen den Dorfältesten in Brooklyn und Mexiko diskutiert und entschieden. Verbindungen zur alten Heimat werden durch Familienausflüge und der Teilnahme an Dorffesten regelmäßig erneuert, während leidenschaftlich ausgetragene Rivalitäten zwischen den Volleyball-Teams der MigrantInnen in Brooklyn einen Beitrag zur kollektiven ticuanensischen Identitätsbildung in New York leisten. Gleichzeitig erhalten die loyalen Dorfmitglieder in der Diaspora ihre lebenswichtigen Transfers von Migradollars nach Hause aufrecht. Seit 1970 hat das Ticuani Solidarity Committee in New York City weitreichende Modernisierungsmaßnahmen in ihrem Heimatdorf finanziert: den Bau zweier neuer Schulen sowie die Renovierung der Kirche und mehrere Verwaltungsgebäude.

Auf der Markroebene stellen die durchorganisierten und mit der Ticuani-Gemeinschaft vergleichbaren Assoziationen und Fraternidades eine anpassungsfähige Infrastruktur in den heutigen US-amerikanischen Metropolen dar. In Los Angeles z.B. haben Tausende ZapotekInnen aus Oaxaca nicht nur ihre lokalen Heiligen und Madonnen mitgebracht, sondern auch ihre traditionellen Dorfregierungen en bloc in die innerstädtischen katholischen Kirchengemeinden verpflanzt. »Die Zapoteken überlisten die Slumlords, indem sie aus einer gemeinsamen Kasse und mit dem Segen der Kirche Appartmentgebäude aufkaufen und mehrere Namen auf den Verträgen eintragen lassen. Ihre Räte haben ein gemeinsames Sparvermögen für Schul- und College-Gebühren eingerichtet, was den MigrantInnen erlaubt, ihre Kinder auf Universitäten zu schicken, von denen ihre oftmals armen und ungebildeten Eltern in der Vergangenheit nur träumen konnten.«3 Innerhalb dieser transnationalen Netzwerke kommt es recht häufig vor, daß die einzelnen Individuen in den von ihnen bevölkerten Parallelwelten einen vollkommen unterschiedlichen sozialen Status besitzen. Die Stadt San Miguel el Alto in Jalisco z.B. hat über Jahre flexible Arbeitskräfte für Palm Springs in Kalifornien bereitgestellt. Während der Hochsaison im Winter und Frühling ist praktisch die ganze männliche Bevölkerung nach Norden gezogen, um in dem berühmten Urlaubsort mitten in der Wüste in den zahlreichen Steakhäusern, Restaurants, Hotels und Country Clubs zu arbeiten. Wenn sie nach Jalisco zurückkehren, wandelt sich ihre soziale Stellung erheblich. Ein Korrespondent der Los Angeles Times war verblüfft, als er bei einem Besuch in San Miguel feststellen mußte, daß Kellner und Bedienungshilfen dort in »Villen« wohnen und von ihren Nachbarn als Don angesprochen werden.

Ein inhärentes Problem der Kettenmigration jedoch sind eine Reihe unbeabsichtigter Folgen des Exports von Migradollars und sozialer Probleme aus den USA in die Herkunfts-Gemeinden der MigrantInnen. Angesichts der extremen Unterschiede zwischen den gewalttätigen Straßen der US-amerikanischen Innenstädte und den gewöhnlich friedlichen Dorfwelten im ländlichen Zentralamerika liegt hier eine virulente Gefahr. (Selbst in der mexikanischen Grenzstadt Tijuana, die in den USA oftmals als Hölle des Verbrechens und des Verderbens wahrgenommen wird, beträgt die aktuelle Mordrate nur ein Zehntel der ihrer wesentlich wohlhabenderen kalifornischen Nachbarstadt San Diego.) Gemäß einer lokalen Strafverfolgungsstrategie, die immer stärker auf Massendeportationen (gewöhnlich ohne ein Gerichtsverfahren) von Gangmitgliedern ohne US-amerikanische Staatsbürgerschaft setzt, wurden in den letzten Jahren Tausende enttäuschter und mittelloser Jugendlicher aus Los Angeles nach Mexiko, Belize, El Salvador und Gutatemala abgeschoben. Das Ergebnis ist eine sich ausbreitende und ursprünglich im städtischen Kontext entstandene Gewalt in vormals ländliche Gebiete. In der Kleinstadt Quezaltepeque in El Salvador (13.000 Einwohner) gab es im Jahr 1997 z.B. dutzende Morde infolge eines exportierten Gangkrieges zwischen Repatriados aus Los Angeles' 18th Street und den Mara Salvatrucha Sets. In anderen Fällen sind abgeschobene Jugendliche - teilweise mit Automatikwaffen, Handgranaten und Feuerwerfern vom Schwarzmarkt ausgerüstet - als Söldner von einflußreichen mexikanischen und kolumbianischen Drogenhändlern aufgetreten.


Die Armutsfalle

Wie war es möglich, daß das rapide Wachstum der städtischen Latino-Bevölkerung gerade in einem Zeitraum stattfinden konnte, in dem die meisten US-amerikanischen Großstädte eine Phase der massiven Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit durchliefen? Die simple und beliebte Antwort vieler konservativer Politiker lautet: Die neuen MigrantInnen haben den einheimischen ArbeiterInnen eine ganze Reihe von Jobs einfach weggenommen. Eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung der fünf wichtigsten EinwandererInnen-Metropolen ist zu dem Ergebnis gekommen, daß MigrantInnen in der Regel entweder in den Beschäftigungsnischen unterkommen, die erst durch die Einwanderung geschaffen worden sind, oder in den Bereichen eingestellt werden, die von den einheimischen ArbeiterInnen auf dem Weg zu besser bezahlten Jobs in den Vorstädten aufgegeben worden sind. Das heißt, MigrantInnen ersetzen die Einheimischen zwar in bestimmten Beschäftigungszweigen, sie verdrängen sie jedoch nicht.

Eine aktuelle Studie über Migrationsbewegungen fand heraus, daß 1996 elf Prozent der neu eingewanderten Familien mit einem Jahreseinkommen von weniger als 5.000 Dollar eindeutig unter die Armutsgrenze fielen, während ihr Anteil an den Ärmsten der Armen 1990 noch 5,5 Prozent betrug. Die Reform des Einwanderungsgesetzes von 1986 (IRCA) brachte zwar 2,5 Millionen einstmals »illegalen EinwandererInnen« eine Arbeitserlaubnis und das Anrecht auf Staatsbürgerschaft, Millionen andere, die nicht die Bedingungen für die Amnestie erfüllten und nach dem festgesetzten Datum ins Land gekommen waren, wurden jedoch zu rechtlosen Parias. Die Einführung von Sanktionen gegenüber den ArbeitgeberInnen hat ihre Beschäftigungsmöglichkeiten auf die miesesten Jobs innerhalb der städtischen Schattenökonomie beschränkt und gleichzeitig die Dog-Eat-Dog-Konkurrenz untereinander vorangetrieben. Hinzu kommt, daß Latinos und AsiatInnen die US-amerikanischen Großstädte just zu einem Zeitpunkt neu bevölkern, in denen die Parlamente ihre sozialen Aufgaben über Bord werfen, Sozialhilfe streichen, Krankenhäuser schließen, öffentliche Beschäftigung reduzieren und die Staatseinnahmen in die wachsenden Vorstädte investieren. Das durchschnittliche Jahreseinkommen von mehr als 30 Millionen Latinos in den USA ist zwischen 1989 und 1996 um 3.000 Dollar gesunken. In dieser Statistik ist vor allem die Armut der neu eingewanderten MigrantInnen erfaßt, doch auch die in den USA geborenen Latinos haben erheblich an Einkommen eingebüßt. Einer kürzlich veröffentlichten Studie über 34 ethnische Gruppen in der Greater Los Angeles Area (14,5 Millionen EinwohnerInnen) zufolge betrug das Durchschnittseinkommen von in den USA geborenen mexikanischen Männern (Chicanos) 1959 noch 81 Prozent des Einkommens von nicht-hispanischen weißen Männern, 1990 dagegen nur noch 61 Prozent. (Bei Migrantinnen fiel der Anteil im Vergleich zu weißen Frauen von 81 auf 51 Prozent.) Angesichts solch krasser und zunehmender Ungleichheiten ist die Suche nach größerer wirtschaftlicher und politischer Macht zu einem kategorischen Imperativ für die städtische Latino-Bevölkerung geworden.


Doppelte Staatsbürgerschaften

Latinos gelten nach Meinung fast aller politischer BeobachterInnen als der »schlafende Drache« im US-amerikanischen politischen System. Mit Ausnahme der Exil-KubanerInnen in Miami sind Latinos vom politischen und öffentlichen Leben in den meisten städtischen Ballungszentren mehr oder minder ausgeschlossen. Mehr als acht Millionen Erwachsene (von insgesamt 18,4 Millionen Latinos im wahlfähigen Alter) besaßen 1996 noch nicht einmal die grundlegenden Bürgerrechte. Die lange Geschichte der politischen Marginalität der Latino-Communities scheint sich jedoch ihrem Ende zu nähern. Die aktuelle Welle von rassistischen politischen Kampagnen hat eine bemerkenswerte Gegenreaktion innerhalb der Latino-Bevölkerung herausgefordert. (In der US-amerikanischen Geschichte gibt es hierfür einen legendären Präzedenzfall: Den gewaltigen Anstieg der katholischen und jüdischen Wählerschaft als Reaktion auf das Anwachsen des Ku Klux Klan während der Präsidentschaftswahlen 1928.) Im ganzen Land beantragen spanisch-sprechende MigrantInnen in bisher beispiellosen Zahlen die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Unter dem Andrang von mehr als 2,5 Millionen asiatischen und hispanischen BewerberInnen sind die Einbürgerungsbürokratien inzwischen fast schon zusammengebrochen. Insbesondere für MexikanerInnen ist der Weg zur Wahlurne in den USA durch das kürzlich vom mexikanischen Kongreß verabschiedete Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft vereinfacht worden. 1997 wurden 255.000 mexikanische MigrantInnen eingebürgert. In dem Moment, in dem sich demographisch machtvolle Latino-Communities aufmachen, ihre Ansprüche auf eine bessere Schulausbildung ihrer Kinder und mehr Stellen im öffentlichen Dienst anzumelden, finden sie sich in einem politischen Dilemma wieder: Angesichts gewaltiger fiskalischer Haushaltskrisen geraten sie immer stärker in einen erbittert geführten Konkurrenzkampf mit der lokalen Führerschaft der afro-amerikanischen Bevölkerung, die sich weigert, von ihren hart erkämpften Errungenschaften an andere Gruppen etwas abzugeben. Die alte Bürgerrechts-Koalition zwischen Schwarzen und Latinos, die zum ersten Mal während progressiver Kampagnen in den 40er Jahren zum Einsatz kam und in den 80er Jahren von Jesse Jackson neu begründet wurde, ist in den 90er Jahren daher fast überall im Land auseinandergebrochen.
Wie in den 30er und 60er Jahren hängen substantielle Reformen des politischen Systems insgesamt weniger von erfolgreichen Wahlmanövern ab, sondern vielmehr von den sozialen Kämpfen im Stadtteil und am Arbeitsplatz. Und ohne die Bedeutung der lokalen Auseinandersetzungen um Wohnungsfragen, Bildung oder Themen der Inneren Sicherheit mißachten zu wollen, bleibt der erfolgreiche Kampf der Gewerkschaften die zentrale Hoffnung für den Großteil der städtischen Latino-Communities. Aber auch in diesem Bereich gibt es eine lange Geschichte der Frustration und Enttäuschung. Über Jahrzehnte haben die Funktionäre der ArbeiterInnenbewegung wenig mehr als heuchlerische Lippenbekenntnisse abgegeben, wenn es um die Rechte und die Organisierung der hispanischen ArbeiterInnenschaft ging. Seit Ende der 80er Jahre jedoch haben hispanische AktivistInnen aus der ArbeiterInnenbewegung einen Durchbruch erreicht, sowohl auf der Betriebsebene wie auch bei internen Machtkämpfen und Gewerkschaftswahlen. Insbesondere Los Angeles County mit mehr als 500.000 hispanischen FabrikarbeiterInnen und 1,5 Millionen Latino-Beschäftigten innerhalb der Dienstleistungsindustrien ist zum Epizentrum und Schauplatz dramatischer MigrantInnenaufstände und -streiks geworden. Seit der Kampagne Justice for Janitors der Hausmeister und des Reinigungspersonals in den Wolkenkratzern von Downtown und Century City Ende der 80er Jahre wird Südkalifornien von Arbeitskämpfen erschüttert, bei denen Latinos in der ersten Reihe stehen: 1990 die Streiks in den Werken von American Racing Equipment, 1992 die besonders militanten Arbeitskämpfe der Steinmetze und Sandstrahlarbeiter, 1995 der Streik der Hotelangestellten des New Otani, 1996 der Streik von Tausenden von Hafenarbeitern, 1997 der erfolgreiche Arbeitskampf der Beschäftigten in der Tortilla-Fabrik Mission Guerrero und die aktuelle Organisierungskampagne der Gewerkschaften bei Guess Jeans. Dank der entschlossenen Unterstützung von Bürgerrechtsgruppen und MigrantInnenorganisationen, liberalen Geistlichen und hispanischen College-StudentInnen ist es gelungen, mit innovativen Kampfformen zahlreichen Arbeitgebern den Schlaf zu rauben.
Die beeindruckenden Energien der Basis, die in diesen Kämpfen freigesetzt wurden, beeinflußten sowohl die Lokalregierungen wie auch die Politik der Arbeiterbewegung. 1997 z.B. hat sich der Los Angeles City Council gegen den Willen von Bürgermeister Riordan einem Dutzend anderer Städte (darunter San Francisco und Baltimore) angeschlossen, indem er eine »Living-Wage-Verordnung«4 für alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst und in den Vertragsfirmen verabschiedete. GewerkschaftsaktivistInnen versuchen heute ihren Mitgliedern und den Menschen in den Stadtteilen verständlich zu machen, daß die Militanz der ArbeiterInnenbewegung die einzige denkbare und nachhaltige Alternative zu kurzfristigen und hauptsächlich von Verzweiflung angetriebenen Gewaltexplosionen (wie z.B. während der Rodney-King-Riots) darstellen kann. Ihrer Argumentation zufolge können auch die "post-industriellen" städtischen Ökonomien - unabhängig von den düsteren Einschätzungen zahlreicher Geographen und Stadtsoziologen - über kollektive Arbeitskämpfe um höhere Löhne und mehr Gerechtigkeit erfolgreich restrukturiert werden. (Auch wenn die Rückkehr zum »verlorenen Paradies« des Nachkriegs-Fordismus ausgeschlossen erscheint). Zudem sei die erfolgreiche Organisierung am Arbeitsplatz immer noch der effektivste Weg, um die politische Repräsentation der sozio-ökonomischen wie auch der kulturellen und sprachlichen Rechte der Latino-Bevölkerung sicherzustellen. Dies klingt nach einer sehr überzeugenden, wenn auch recht traditionellen linken Argumentationsweise. Ob die neuen Mobilisierungsversuche der Gewerkschaften im Bündnis mit Community-Organisationen der Latino-Bevölkerung tatsächlich eine Chance bieten, ihrer politischen Marginalisierung in den städtischen Ghettos und der Armutsfalle zu entgehen, wird sich nur in praktischen Experimenten in Brooklyn, Houston, Chicago oder Südkalifornien beweisen lassen. Nur weitere soziale Kämpfe werden zeigen können, ob die neu entstehende städtische Latino-Mehrheit in den US-Metropolen Hoffnungsträger für eine städtische Erneuerung darstellt oder nur das ruinöse Erbe schon längst vollzogener Niederlagen antritt.

Der Text ist die gekürzte Fassung eines Aufsatzes, der in voller Länge in Davis, Mike: Casino Zombies, Verlag Schwarze Risse, Berlin 1999 erschienen ist. Übersetzung: Britta Grell.
Anmerkungen
  1. vgl. National Center for Health Studies: Birth of Hispanic Origin, 1989-1995, Washington D.C. 1998 [back]
  2. vgl. Conway, Dennis / Jeffrey Cohen: Consequences of Migration and Remittance for Mexican Transnational Communities, in: Economic Geography Vol. 74, No. 1 (Januar 1998), S. 26-44 [back]
  3. O'Connor, Marie: Zapotecs in Los Angeles, in: Los Angeles Times 25. März 1998 [back]
  4. Als Reaktion auf den Druck eines breiten Bündnisses aus Gewerkschaften und Community-Organisationen haben sich zahlreiche Lokalregierungen der sogenannten Living-Wage-Kampagne angeschlossen. Weil der gesetzlich festgeschriebene Mindestlohn (derzeit in den USA 5,15 US-Dollar pro Stunde) zur Lebenssicherung nicht ausreicht, wurden Vertragsfirmen (und Unternehmen, die von den Regierungen Subventionen erhalten) in Los Angeles dazu verpflichtet, einen Mindestlohn von 7,50 US-Dollar pro Stunde zu bezahlen. [back]
Mike Davis unterrichtet Stadtsoziologie am »Southern California Institute of Architecture«

erschienen in: iz3w 237, Freiburg 1999




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